Dr. Michael Bockemühl: Farbe – Identität und Erscheinen

….. Was geschieht, wenn das Bild nur eine Farbe zeigt? Welches Verhältnis hat dann das Mittel der Darstellung zu dem also, was sichtbar ist? Läßt man gelten, daß Farbe stets das ist, was sie zeigt, so wäre zunächst die einfache Antwort zu geben: Für das Wahrnehmen sind in Yves Kleins Bild das Darstellende und das Dargestellte untrennbar eins. Es handelt sich dabei um eine Initialerkenntnis. Aber die Kunst konnte dabei nicht stehen bleiben. Denn in der weiteren Entwicklung der Farbmalerei war die Entdeckung, daß Blau blau ist, nur ein Ausgangspunkt. Nicht welche Farbe dargestellt wird, war von weiterem Interesse, sondern wie sie künstlerisch zum Erscheinen gebracht wird. Kunst ist vor allem fruchtbar, wenn sie immer neue Fragen weckt. Und so entfaltete sich in der Farbmalerei eine nahezu unübersehbare Vielfalt differenzierter Farbgestaltungen, die das Bewußtsein auf immer weitere Fragen lenkt. Jede Differenzierung wird dabei bedeutsam, auch wenn sich die Unterschiede zwischen verschiedenen künstlerischen Konzepten der Farbmalerei nicht auf den ersten Blick zeigen, sondern sich erst durch ein eingehendes, ja aktives Betrachten erschließen. Zu diesen differenzierenden Fragen zählt eine der Leitfragen von Susanne Stähli: Wann ist ein Rot ein Rot? Es ist die Frage nach der Identität im Erscheinen einer Farbe.

Wer diese Frage einzig auf begrifflich-deduktivem Wege zu beantworten versucht, erreicht schnell eine Grenze. Susanne Stähli geht davon aus: Farbe wird nur in der Anschauung faßbar. Die Antwort auf die Frage nach der Identität der Farbe versucht die Künstlerin daher nicht in abstrakten Begriffen oder Worten zu geben. Statt dessen stellt sie Bilder vor Augen, die die Identität einer Farbe durch ein spezifisch gestaltetes Farb-Erscheinen zum Erlebnis bringen können. Mit ihrer Malerei führt sie den Betrachter zu der für sie entscheidenden Frage. Sie sucht den Betrachter mitzunehmen auf ihren Weg der Suche.

Das praktische malerische Vorgehen ist ihr so wesentlich wie das Ergebnis, das fertige Bild. Den zentralen Prozeß ihres Vorgehens kennzeichnet sie als Schichten. Die Schichttechnik des Aquarells wendet sie mit wäßrigen Acryllasuren auf die Leinwandmalerei an. Es handelt sich dabei um einen behutsamen, komplexen Prozeß, in dem jeder Pinselzug mit Risiken verbunden ist. Das Resultat des Auftrags einer Farbe kann nie bis ins Letzte vorausgewußt werden. Denn welche Farbe entsteht, wenn die zuvor gesetzte Farbe durch die darüber lasierte Farbe hindurch scheint und sich beide Farben dabei für das Auge mischen, läßt sich stets nur erproben. Dabei sind keine nachträglichen Korrekturen möglich. Beim Malen muß sie sich in jedem Moment von der Wahrnehmung des soeben Entstehenden leiten lassen und zugleich den weiteren Malprozeß offen halten. Erscheinende Farbe läßt sich nicht einfach nur hinmalen, da sie erst im Blick auf das Bild konkret wahrgenommen werden kann.

In ihrem wahrnehmungsgeleiteten Vorgehen auf der Suche nach dem Erscheinen der Identität einer bestimmten Farbe (eines Rot, eines Blau oder Gelb) liegt die Antwort, die die Künstlerin für den Betrachter eröffnen will. Es versteht sich, daß es dem Betrachter zukommt, in dem, was er erlebend sieht, die erscheinende Identität selber zu suchen und für sich auszusprechen.

Klar ist, daß sich nicht mit Worten erschöpfend sagen läßt, was ein Bild zum Erlebnis bringt. Könnte man dies, wäre kein Kunstwerk nötig….

Auszug aus Katalog “Schichtungen” 2007

Professor Dr. phil. Michael Bockemühl, (gest. 2009), war Inhaber des Lehrstuhls für Kunstwissenschaft, Ästhetik und Kunstvermittlung im Studium fundamentale der Universität Witten/Herdecke. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung zählte die Entwicklung einer Anschauenden Ästhetik.