Farbe und Raum, Licht und Zeit

Zu den Arbeiten von Susanne Stähli

Das Werk von Susanne Stähli setzt sich auseinander mit zwei scheinbar verschiedenen Größen. Die eine ist die Farbe als eine spezifische Erscheinung von Wirklichkeit, die zweite ist das Licht, das diese Wirklichkeit erst zur Erscheinung bringt. Mit diesen beiden Variablen begibt sich die Künstlerin auf den Weg einer künstlerischen Grundlagenforschung, mit der sie das gängige Verständnis von Farbe grundlegend in Frage stellt. Indem sie Farberfahrungen möglich macht, die den Blick sensibilisieren, wird das Verständnis von Farbe auch über den künstlerischen Bereich hinaus neu definiert.

Den drei Ausstellungsräumen des Kunstvereins Schwerte hat Susanne Stähli jeweils eine Farbe zugeordnet: Rot, Gelb und Blau. Daneben gibt es eine „grüne Kammer“, in der keine Malerei gezeigt wird. Hier bestimmt allein farbiges Licht den kleinen, begehbaren Raum.

Dominiert werden die drei anderen Räume von jeweils einem großformatigen Leinwand-Bild im Format 200 cm x 200 cm. Der jeweilige Farbeindruck wird ergänzt und intensiviert durch mehrere kleine Formate.

Die Bildentstehung ist bei Susanne Stähli ein Prozess der Farbfindung. Am Beispiel der Acrylbilder sei das kurz erläutert: Die Künstlerin trägt dünnflüssige Acryl-Lasuren auf die liegende Leinwand auf, wobei sich von Mal zu Mal der wahrzunehmende Farbton verändert. Der Zeitpunkt der Fertigstellung eines Bildes ist ein intuitiver. Es ist der Augenblick, in dem sich neu geschaffene, nicht vorhersehbare Farbtöne auf der Leinwand zeigen, die sich fein abgestimmt zu einer Ganzheit fügen. Da keine Leinwand homogen monochrom gestaltet ist, sondern eine ungeheure Vielzahl von Farbnuancen auf der Bildfläche erscheint, erzeugt jedes Bild einen nur ihm eigenen Farb-Raum unterschiedlicher Tiefe.

Darüber hinaus scheint es, als sei der Farbe die Fläche der Leinwand nicht groß genug, als dehne sie sich, den Bildrand überstrahlend, in den Realraum weiter aus.

Fast wie eine Reaktion auf diese Farbaktivität wirkt die Installation der Ausstellungsräume: Die Scheiben der Sprossenfenster sind auf drei unterschiedliche Arten farblich behandelt, jeweils in einem Farbton der raumspezifischen Farbe. Einige der Scheiben sind mit Tusche bemalt, andere mit einer transparenten, wieder andere mit einer opaken Folie bedeckt. Das stellt gleich in doppelter Hinsicht einen Eingriff in die Raumwahrnehmung dar.

Das Licht, das durch die transparent gefärbten Scheiben in den Raum einfällt, thematisiert die Raumgrenze und bringt sie prägnanter ins Bewusstsein, und das farbige Licht lässt gleichzeitig die konkrete Raumgrenze unpräzise und diffus erscheinen.

Der Eingriff aber, die farbliche Behandlung der Fensterscheiben, ist so erfolgt, dass – neben ausgewählten anderen – sämtliche Scheiben farblich behandelt sind, die sich in etwa auf Augenhöhe befinden. An keiner Stelle ist hier der freie Blick nach außen möglich. So zieht sich ein Farbband wie eine Sichtblende durch alle Räume und macht den Ausstellungsraum als Innenraum in besonderer Weise bewusst. Damit nimmt auch der Besucher in dem Ausstellungsraum sich selbst in spezifischer Weise wahr als verantwortlich für den einsetzenden kommunikativen Akt.

Wahrscheinlich geschieht es zunächst zufällig, dass der Blick des Besuchers in einem der Licht-installierten farbigen Räume auf den eigenen Körperschatten an den Wänden fällt. In der roten Rauminstallation wird besonders deutlich, dass der rote Lichtanteil so groß ist, dass ein roter und ein grüner Schatten entstehen, d.h. es gibt Schatten in einer Grundfarbe und deren Komplementär-farbe. Entsprechend sind im gelben Raum leicht violette und im blauen Raum leicht orangefarbene Schatten zu entdecken.  – Genauso wenig wie in der Malerei von Susanne Stähli geht es hier um den Nachweis eines physikalischen Phänomens. Es gibt keine experimentellen Versuchsanordnungen und somit auch keine eindeutigen Farb-Erscheinungen, sondern die wahrzunehmenden Lichtphänomene sind auch hier nicht-eindeutige. Sie entsprechen nicht der üblichenAlltagserfahrung.

Um eine Infragestellung der wahrgenommenen Wirklichkeit geht es auch in diesen vier Bildern im roten Raum.

Auf den ersten Blick scheinen sie gar nichts miteinander zu tun zu haben. Dann aber wird deutlich, dass hier nur ein einziger Blick durch und auf ein Fenster in diesem Raum festgehalten worden ist.

Die Künstlerin hat vier aneinander grenzende Fensterflächen ausgewählt, eine davon wird mit einer opaken Folie in rot- violettem Farbton versehen (4), die darunter liegende im selben Farbton mit einer speziellen Tusche so bemalt, dass der Pinselduktus erkennbar bleibt(2). Auf die dritte Scheibe wird eine transparente Folie aufgebracht (3) und die vierte Scheibe bleibt frei (1). Sie bietet weiterhin eine ungehinderte Sicht nach draußen.

Was die Präsenz der vier „Bilder“ im Raum angeht, spielt die Art der Aufbringung der Farben eine wesentliche Rolle. Der Blick bleibt einmal im Raum (4) und geht im anderen Fall ganz aus dem Raum hinaus; die beiden transparent gefärbten Scheiben erfordern eine Fokussierung im Mittelfeld (Fensterscheibe). Dadurch scheint der Blick das Außen näher heranzuholen, sodass einerseits eine diffuse Räumlichkeit entsteht, und andererseits werden die im Fenster zu sehenden „Bilder“ selber – durch Farbigkeit und erkennbaren Pinselduktus verstärkt – zum Bestandteil der Ausstellung.
Das Phänomen der verunsicherten oder diffusen Räumlichkeit, das auch die gemalten Bilder charakterisiert, wird hier durch den Farbeinsatz auch in der außerbildlichen Realität erlebbar.

1 Wahrnehmung als Wirklichkeit

2 Wahrnehmung als Bild von der Wirklichkeit

3 Wahrnehmung als Bildwirklichkeit

     

Schließlich führt der Blick durch die klare Scheibe, dann durch die verschiedenen Farbstrukturen der Malerei und weiter durch das homogene blaue Feld zu ganz unterschiedlichen Deutungen der Wirklichkeit und lässt die Frage aufkommen, worin sich denn die Wirklichkeit der Malerei und die Wirklichkeit außerhalb der Malerei unterscheiden.

Diese Problematik verstärkt sich bei der Beobachtung der Vorgänge, wenn die tiefer stehende Sonne in den Nachmittags- und Abendstunden bewegte Bilder auf die zum Westen weisenden Scheiben projiziert, die als Bildschirme fungieren. Auf der linken Scheibe zeigt sich ein Film, in dem die Blätter eines Baumes die Akteure sind. Sie lassen ein abstraktes Spiel aus Licht und Schatten entstehen, bei dem es außerhalb jeder Gegenstandsassoziation nur noch um die Farbe Rot geht, die sich in einer unvorstellbaren Vielzahl von Nuancen zeigt.

Auf dem zweiten „Bildschirm“ ist ein Film zu sehen, der eine reale Handlung einbezieht oder einbeziehen kann, abhängig davon, was sich auf dem Platz vor dem Fenster abspielt. Da das Auge auch hier für beide Fensterscheiben nur die eine Ebene zu fokussieren sucht, werden beide Phänomene als bewegte Bilder und nicht als Blick auf die Wirklichkeit wahrgenommen.

             

So erweist sich das zunächst als „Sichtblende“ interpretierte farbige Band, das sich auf Augenhöhe durch alle Ausstellungsräume über die Fenster zieht, als genaues Gegenteil dieser Einschätzung, nämlich als Entgrenzung des Raums. Und damit eröffnet sich erneut ein ungewöhnlicher Blick auf „Wirklichkeit“, da Innen und Außen, Nähe und Ferne, Kunst und Nicht-Kunst einander nicht ausschließen, sondern ineinander übergehen und wie die Malereien in einen pulsierenden Zustand geraten.

Die „grüne Kammer“ macht das Phänomen der Raumentgrenzung durch Farbe noch einmal explizit deutlich: Steht man in dem kleinen geschlossenen Raum umgeben von Grün, kann das Auge kaum Fixpunkte ausmachen, die der Orientierung im Raum dienen. Aus dieser Farbüberflutung kommend, erscheint die nicht-grüne Welt im wahrsten Sinne des Wortes für einige Momente „rosarot“.

Die Bewegungen außerhalb des Raums, die über das farbige Fensterband als bewegte Bilder in die Ausstellung mit einbezogen werden, lenken den Blick auch auf die Bewegungen, die sich innerhalb des Raums abspielen.

Wenn die Sonne im Laufe eines Tages um das Haus wandert, fallen in unterschiedlichen Winkeln die farbigen Fensterschatten auf Wände und Fußboden. Sie erzeugen dort eine in beständigem Wandel befindliche Licht-Malerei.
Insbesondere wenn diese Licht-Schattenformen auf einen fixen Punkt zuwandern – auf eine Raumecke oder auf ein Bild -, erkennt man ihre ansonsten unmerkliche Bewegung. Schließlich wandern sie für einige Minuten auch über eine Bildfläche der gemalten Bilder. Das Ereignis dieses Zusammentreffens von Bild und Lichtschatten macht nochmals schlagartig deutlich: Ein Farbton ist nie ein definitiver, sondern wesentlich abhängig von dem Umfeld seiner Erscheinung.

So wird aber auch deutlich, dass Bewegung ein integrativer Bestandteil dieser Installationen ist. Von den starken Bewegungen, die von außen über die farbbehandelten Fensterscheiben als Projektionen in den Raum eindringen, über die mit der Sonne wandernden und sich beständig verändernden Lichtreflexe bis hin zum rein optischen Pulsieren der Farbflächen auf den Leinwandbildern findet ein Prozess der Entgrenzung und der Entschleunigung statt. Neben seiner eigenen Bewegung im Raum erlebt der Betrachter gleichzeitig drei andere Geschwindigkeiten. So geht von diesen Rauminstallationen sowohl eine fast meditative Ruhe aus wie auch der Bewegungsimpuls, der den Betrachter hellwach und in seiner Wahrnehmung sensibilisiert durch die Räume gehen lässt.

„Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss“, heißt es bei Heraklit. Für die Ausstellung von Susanne Stähli heißt das: „Man sieht nicht zweimal dieselbe Ausstellung.“ – Und das ist unabhängig davon, wie oft man „dieselbe“ Ausstellung besucht; denn die Farberscheinungen wechseln im Sekundentakt oder fließen beständig ineinander.

Eine Ausnahme zeigt sich diesbezüglich in den Abendstunden, wenn bei der künstlichen Innenbeleuchtung der Ausstellungsräume das farbig erstrahlende Haus sich an seinem Standort selber auszustellen scheint.

Und betritt man die Installationen in den Abendstunden, wenn das künstliche Licht Straßen und Plätze beleuchtet, ist nochmals eine völlig verwandelte Ausstellung zu erleben. Der „White Cube“ der Ausstellungsräume ist auch bei Tage als solcher nicht wahrzunehmen; in der Dunkelheit nimmt das Auge die Fensterprojektionen auf den Wänden als gedämpft farbige Schatten wahr. Das technische Auge einer Kamera lässt aber bewusst werden, dass wir auch im Dämmerlicht durch Farbe gehen.

Ulfried Weingarten